Überleben ist nicht genug
Bald ist 1. Mai. Denke ich. „Tag der Arbeit“, wird der Tag jetzt oft genannt. Weil „Internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung“ ein bisschen lang ist – ein wenig sperrig. „Arbeit feiern“ klingt heute lächerlich, denke ich und schaue auf meinen Küchentisch, der sich seit letztem Jahr „home office“ nennt. Wäre ja blöd, wenn ich das noch feiern würde. Vor mehr als 100 Jahren demonstrierten am 1. Mai die Arbeiter_innen noch für den Acht-Stunden-Tag. In Österreich war die Beteiligung damals besonders eindrucksvoll; an Festen und Kundgebungen wurden die Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen verkündet und zusammengesessen. Jetzt klingt „Tag der Arbeit“ eher schlecht als recht. Wir wollen ja nicht feiern, dass das Pflegepersonal völlig überarbeitet ist, dass wir immer noch zu viel arbeiten für Löhne, die immer noch nicht zum Leben reichen. Dass wir zum Beispiel am Anfang der Pandemie nicht arbeiten gehen konnten, wenn wir Pädagog_innen sind und hackeln gehen mussten, wenn wir auf dem Bau arbeiten. Und wir wollen auch nicht feiern, dass wir gerade entlassen wurden. Oder bald werden. Irgendwo zwischen Arbeitszwang und Jobverlust bin ich empört. Empört und verängstigt. Und ich frage mich, wer ist Schuld? Vor der Pandemie hörte ich noch meinen Nachbarn sagen „der Kapitalismus“ und die Frau, die sich am Nebentisch das Bier bestellte „die Flüchtlinge“. Heute sehe ich meinen Nachbarn kaum mehr. Und die Frau kann sich nirgendwo mehr ihr Bier bestellen. Dafür müssen wir alle nicht mehr nach einem Feind suchen: Denn es gibt jetzt das Virus. Das Virus. Das Virus kann meiner Angst ein Gesicht geben. Das Virus kann meinem Feind einen Namen geben. Das Virus ist schuld. Das Virus bedroht Arbeitsplätze, es verhindert faire Löhne, es zwingt Menschen zu unbezahlter Mehrarbeit. Ich frage mich, was es im Schilde führt, warum es keine Fragen stellt.
Und so wie es keine Fragen stellt, hat es schon viele Antworten geliefert. Zum Beispiel, dass es nicht die CEOs, Bankangestellte, Immobilien-Besitzer_innen oder Technologie-Unternehmen sind, die unsere Gesellschaft am Leben halten – sondern die oft unsichtbar gemachten Arbeitskräfte in Einzelhandel, der Logistik und im Gesundheitsbereich. Sie arbeiten strategisch unterbezahlt. Und so wie das Virus keine Fragen stellt, müssen wir sie stellen: Wieso wird diese systemrelevante Arbeit am schlechtesten – oder gar nicht – bezahlt? Applaus ist nett – er zahlt sich aber nicht aus. Vor allem nicht dann, wenn noch während der Danksagung die Arbeitsbedingungen weiter verschärft werden. Das Außerkraftsetzen von personal-rechtlichen Regelungen wie der maximalen Höchstarbeitszeit und notwendiger Ruhepausen für Spitalangestellte, zeigt, dass sie als systemrelevant bezeichnet, aber weiterhin als zweitklassig behandelt werden. Das Virus legt die Herrschaftsverhältnisse und seine Widersprüche offen und verschärft sie. Bald ist Tag der Arbeit, denke ich. Ein Tag, an dem seit mehr als hundert Jahren Menschen für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen ihre Stimmen erheben. Und auch in dieser Zeit, in der uns alle erklären wollen, es sei jetzt nicht der Ort und nicht die Zeit für anständige Löhne, gibt es einen 1. Mai. Und es gibt nichts zu feiern. Aber jetzt, wo das Virus die Verhältnisse sichtbarer gemacht hat, können wir uns gegen das Sichtbare wehren. Einen schönen 1. Mai allerseits.